Am 5. März fand der deutsche Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2015 in Hannover statt. Wildcard-Gewinnerin Ann Sophie und The-Voice-Gewinner Andreas Kümmert waren hoch gehandelt. Beide landeten im sog. Halbfinale, also unter den letzten Vier des Vorentscheids.
Geht es um Songs oder um Anrufe?
Seit geraumer Zeit wird der deutsche Vorentscheid mit zwei neuen Spielregeln durchgeführt: Zum einen können sich seit 2014 zehn SängerInnen oder Bands mit einem Video für das sog. Clubkonzert bewerben. Wer dort durch Televoting gewinnt, bekommt eine Wildcard für den deutschen ESC-Vorentscheid. Gesungen wird ein Song, dann wird abgestimmt.
Zudem gibt es jetzt die Neuregelung, dass beim deutschen Vorentscheid die acht KandidatInnen zweimal antreten müssen. Sie singen natürlich alle ihren Toptitel, mit dem sie ja erst in diesen Vorentscheid hineingekommen sind. Wer würde schon so dreist sein, darauf zu setzen, mit der zweiten Wahl weiterzukommen, wenn es einen besseren Song im Repertoire gibt?
Also wird eine kleine Fußballmeisterschaft nachgespielt, die nur einen Zweck hat: Geld verdienen durch Televoting. Auch weil die Anrufe nicht die Welt kosten, oder gerade deshalb, ruft alle Welt an, oft sogar mehrfach, bis die Telefonrechnung qualmt.
Für die gescriptete Dramaturgie dieses Vorentscheids ist es also nötig, dass die KandidatInnen zwei Titel im Koffer haben. Dass der zweite Song auch die zweite Wahl ist, dürfte offensichtlich sein. Wie sonst hätten sie es mit dem ersten Titel ihrer Wahl so weit geschafft.
Peinlich in dem Zusammenhang, dass zwischen Song #1 und Song #2 Einspieler gezeigt werden, die vor dem Vorentscheid gefilmt und produziert wurden und zeigen sollen, wie sehr sich diejenigen, die ins Halbfinale des Vorentscheids gekommen sind, über den Erfolg freuen. Das ist „scripted reality“, und auch noch schlecht gemacht.
Und so ruft das DSDS- und Voice-konditionierte Wahlvolk auch beim ESC-Vorentscheid über Gebühr oft an, um den eigenen Favoriten nach oben zu voten. Spannung wird durch die Entscheidung, einem Favoriten auch einen der beiden Songs zuzuschreiben, nicht erzeugt. Nur Televoting-Einnahmen. Hatte ich schon erwähnt, was eine „zweite Wahl“ ist?
Wen kümmert Kümmerts Verzicht?
Nun der angebliche Eklat: Da gewinnt Andreas Kümmert (für mich überraschend, aber okay) den Vorentscheid. Seine Songs waren gut, alle beide, seine Stimme – trotz Fiebers – sehr ausdrucksstark, seine Bühnenpräsenz die eines neuen Joe Cocker. Ich sage nichts Abfälliges zu seiner Figur und Optik, wie es andere taten – ich höre Musik mit den Ohren, nicht mit den Augen.
Und dann stellt er sich neben die Nervensäge Schöneberger und verkündet nach einem schüchtern-höflichen Dank für die Wahl: „Ich bin nicht wirklich in der Verfassung, diese Wahl anzunehmen“. Er gibt seinen Titel und damit das Ticket nach Wien zum ESC 2015 ab an die Zweitplatzierte, Ann Sophie. Wenn Schöneberger sprachlos werden sollte, wird sie ordinär – und bewertet diesen Moment als „Coitus interruptus der schlimmsten Sorte“. Ann Sophie ist wie versteinert, durchlebt ein Wechselbad der Gefühle. Erst wieder rauszugehen auf die Bühne, dem Endergebnis entgegenfiebernd, dann zu verarbeiten, dass sie „nur Zweite“ wird, um Sekunden später verstehen zu müssen, dass sie es doch geschafft hat und weiterkommt. Das ist hart.
Was ging in Andreas Kümmert vor sich? Tage zuvor war er von der BLÖD-Zeitung niedergeschrieben worden; eine Schmutzkampagne der üblichen Art, wie sie kaum einer gesund übersteht. Andere Mainstream-Medien, seine Fans und Kritiker, und natürlich der immer alles am besten wissende Mob schießen sich auf ihn ein – die übliche Vorgehensweise. Nichts Genaues weiß man nicht, aber immer feste druff. Wird schon was dran sein. Dabei gibt es Gegenstimmen, die das Bild ganz anders zeichnen als die BLÖD, z.B. die Main-Post.
Wer so von der Widerlich-Presse angegangen und als Sau durchs mediale Dorf getrieben wird, tut gut daran, aus dem Fokus zu treten, ein klares Statement zum Vorwurf abzugeben und dann zu schweigen. Auch der größte Shitstorm dauert nicht ewig. Ich vermute, Kümmert war fix und fertig und fiebrig genug, diesen Rückzieher jetzt zu wagen, um sich und seine gerade begonnene Karriere nicht weiter zu beschädigen. Wäre er nach Wien gefahren, hätten sich die Medien, die natürlich nach Informationen über sein Vorleben und seinen Werdegang suchen, weiterhin und nun noch verstärkt an diesem umstrittenen Kneipenkonzert in Eppingen hochgezogen und hätten ihn weiter niedergeschrieben. Ob er überhaupt der ESC-Gewinnertyp ist, sei dahingestellt. Er ist einer, der noch in der Lage ist, auf sein Herz zu hören. Hut ab, und gute Besserung, Andreas Kümmert.
Warum zweite Wahl nie das Optimum ist
Der für mich eigentliche Eklat ist ein ganz anderer. Da singt sich Ann Sophie mit ihrer tollen Stimme und ihrem wirklich ESC-hitverdächtigen „Jump the Gun“ in die Herzen derer, die beim ESC-Clubkonzert aus zehn KandidatInnen auswählten. Sie bekam mit diesem coolen Ohrwurm die Wildcard für den Vorentscheid. Sie landete mit diesem perfekt auf den ESC zugeschnittenen Titel unter den letzten Vier, um dann den zwar schönen, aber nicht auf Hit gestrickten zweiten Titel „Black Smoke“ nachliefern zu müssen. – Und dann wählt sie das Televoting-Wahlvolk mit eben diesem Zweite-Wahl-Titel auf den zweiten Platz. Ist sie nun gezwungen, diese zweite Wahl in Wien zu singen, oder wie Schreckschraubenfrisur Babsi Schöneberger nicht müde wurde, zu sagen, zu „performen“?
Ann Sophie (Dürmeyer, geb. 1990 in London) bringt alles mit, was eine ESC-Siegerin braucht: Sie hat eine kräftige, ausdrucksvolle, geschulte Gesangsstimme, eine Ausstrahlung und Bühnenpräsenz, die bei allen KandidatInnen von Clubkonzert und Vorentscheid ihresgleichen suchten, weiß nicht nur mit Farben, sondern auch mit vollem Körpereinsatz ihre musikalischen Inhalte zu unterstreichen und hat die Coolness und die Charakterstärke, die es braucht, um sowas wie den ESC durchzustehen – und zu überstehen. Eine gewisse Ähnlichkeit zu Lena (Meyer-Landrut), die ihr manche optisch nachsagen, ist weder wichtig noch erfolgversprechend.
Denn am Ende zählt der Song und seine Wirkung – im Radio, im Kopfhörer – ohne Bühnentheater, Lasershow und Schminke.
Der ESC ist immer noch ein Song Contest. Aber er läuft Gefahr, zu einer simplen Televoting-Show zu werden, derer es längst mehr als genug gibt.
Dass Ann Sophie durch den Verzicht Kümmerts den Vorentscheid für sich entschied, ist kein Eklat. Das kommt allenthalben vor. Manche sind sogar schon mangels Wettbewerb Gewinner geworden. Das alles macht Ann Sophie überhaupt nicht zur zweiten Wahl.
Der eigentliche Eklat wäre, wenn Ann Sophie durch irgendwelche ESC-Regeln gezwungen würde, nur die zweite Wahl singen zu müssen und dadurch die besten Chancen auf einen Topplatz oder sogar den ESC-Sieg zu verspielen.
Wäre ich an der Stelle des deutschen ESC-Komittees, würde ich die Neuregelung des zweiten Songs zur Steigerung der Televoting-Einnahmen schleunigst wieder abschaffen, um den noch immer vorhandenen Anspruch an den ESC nicht vollends zu verspielen. Oder zumindest nicht die Songs, sondern die KandidatInnen durch das Televoting-Wahlvolk wählen zu lassen.
Wäre ich an Ann Sophies Stelle, würde ich jetzt für einen weiteren Eklat sorgen und erklären, trotz Televoting meine erste Wahl zu singen. Das schafft positive mediale Aufmerksamkeit, für sie und den Titel „Jump the Gun“.