Weg mit den Vorrechten des Doktortitels

Der Doktortitel stellt in der deutschen Gesellschaft noch immer einen gesellschaftlich kaum hinterfragten, aber diffus sehr hoch angesiedelten Wert gesellschaftlichen Leumunds dar, der m.E. durch kaum etwas wirklich fundiert ist. Er ist ein reines Prestigeobjekt bestimmter gesellschaftlicher Schichten geworden, der den Habitus verstärkt, ohne Substanz zu haben. Fast niemand weiß im Detail, was der-/diejenige tatsächlich geleistet hat, um ihn zu erlangen, aber bei fast allen Menschen der Gesellschaft ist noch immer ein reflexartiges Verhalten zu sehen, dass sie Menschen mit einem Doktortitel mit mehr „Ehrfurcht“ begegnen. Noch immer bilden sich m.E. zu viele Doktortitelträger zu viel darauf ein. Oftmals haben sie Jahre für eine eher unterdurchschnittliche Doktorarbeit verschwendet und so lange dem oftmals reichen Papa auf der Tasche gelegen, nur um in seine Fußstapfen zu treten. (Ausnahmen bestätigen die Regel.)

Und gerade in unserer nach Individualität lechzenden postindustriellen Informationsgesellschaft sind es vor allem viele Männer, die sich auf diese Weise in einer Art aufwerten können, die ihnen einen scheinbaren (sic!) Vorteil gegenüber mindestens genauso intelligenten, leistungsfähigen und kompetenten Mitmenschen gibt.

Sieht man sich die Geschichte des Doktortitels an, so entdeckt man die Geschichte einer elitären Gesellschaftsgruppe, die zu viel Machteinfluss bekommen hat. Unter anderem Doctores der Theologie und Medizin waren es, die kräuter- und geburtskundige Frauen „vom Markt“ der Medizin verdrängen konnten, indem sie als Hexen diffamiert und nach kirchlichen und weltlichen Verfahren bestraft und manchmal hingerichtet wurden. (Der „Hexenhammer“ (1486) wurde auf Lateinisch veröffentlicht, das einfache Menschen seinerzeit nicht lesen konnten.) Die von diesen Frauen praktizierten Naturheil- und Behandlungsmethoden standen in Konkurrenz zur damaligen Medizin und stellten einen Affront der (katholischen) Kirche dar.

Und noch immer führen sich viele Dr. med. (sic!) in Krankenhäusern auf wie Halbgötter in Weiß – von uns allen dazu gemacht, wohlgemerkt! Ausnahmen bestätigen da nur die Regel. Viele Hebammen werden auch heute noch von vielen Ärzten in vielen Krankenhäusern nur als Pflegekundige 2. Klasse angesehen und haben im Kreißsaal oft weniger zu sagen als ein Arzt – Konkurrenz halt.

Meiner Meinung nach ist es durch nichts gerechtfertigt, dass dieser Anachronismus der Hervorhebung des Dr.-Titels sich immer noch durch die ganze Gesellschaft zieht. Denn er wertet auf der einen Seite künstlich auf und auf der anderen Seite künstlich ab. Ich könnte dutzende Beispiele von Stilblüten aufführen, die zeigen, wie unberechtigt viele ihren Dr.-Titel als goldne Krone durch die Gegend tragen, aber ansonsten weder irgendwas Wissenschaftliches für die Gesellschaft beitragen noch sich sonstwie dieses sog. Titels würdig erweisen. Ein Beispiel soll reichen: Auf die Frage eines Journalisten 1998 nach Kohls Wahlniederlage: „Herr Kohl, werden Sie jetzt trotzdem Ihr Bundestagsmandat wahrnehmen?“ hatte dieser nichts besseres zu antworten als: „Für Sie immer noch ‚Herr Dr. Kohl‘.“

Die Übertragung des Dr.-Titels auf viele andere akademische Bereiche hat natürlich ebenfalls seine Geschichte und dieselben Ursachen: Orden für Männchen.

Es wäre absolut kontraproduktiv, sinnentleert und inflationär, jetzt zu fordern, dass andere Titeln dem Dr.-Titel gleichgestellt werden. Stattdessen würde es nicht nur eine Formalie sein, dem Dr.-Titel endlich auch das Sonderrecht zu nehmen, im Perso etc. eingetragen zu werden, sondern über nicht mehr als eine Generation zu mehr Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in der Gesellschaft führen, was die eigentlichen Leistungen der Menschen und eine gerechtere Entlohnung angeht. Wir alle als Gesellschaft sind dazu aufgefordert, diesen Missstand abzuschaffen, denn es waren wir alle als Gesellschaft, die aus Eitelkeit und Sehnsucht nach Anerkennung gewisse Gruppen der Gesellschaft zu Halbgöttern in Weiß (Mediziner), zu Halbgötter in Schwarz (Politiker) und zu „wertvolleren Menschen“ (Doktortitelträger im Allgemeinen) gemacht haben – in allen drei Punkten völlig unbegründet.

[Dieser Text erschien zuerst am 24.11.2011 in meinen Facebook-Notizen. Den Passus über die Hexenverfolgungen habe ich am 23.01.2017 angepasst.]

FGM folgt MGM // FGM follows MGM

[English translation see below:]

An alle PolitikerInnen, Emanzen, Machos, Religiöse und sonstige Menschen, die noch immer überzeugt sind, dass man FGM und MGM nicht vergleichen kann/darf/muss – und dass beides nichts miteinander zu tun habe:

Die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) wird weltweit erst aufhören, wenn die männliche Genitalverstümmelung (MGM) weltweit aufgehört hat. In allen Ländern, in denen es FGM gibt, gibt es auch MGM.

Der von Menschenrechten und Grundrechten geforderte Respekt ALLEN KINDERN gegenüber verlangt Gleichbehandlung. Und es spielt keine Rolle, wie schwer die Verstümmelung ausfällt – der Akt der Genitalverstümmelung an sich ist das Frevelhafte. Und wenn es noch so sehr mit Ausreden und Ideologien verbrämt wird.

Am 07.05.2015 begehen wir den 3. Weltweiten Tag der Genitalen Selbstbestimmung, in Erinnerung an das richtungsweisende Kölner Urteil vom 07.05.2012. – Wie lange sollen Kinder noch darauf warten, bis die Erwachsenen ihnen endlich ihre Rechte gewähren, die ihnen längst zustehen?

 


[English:]

To all politicians, feminists, men’s rights advocates, religious and other people who still are convinced that one cannot /must not / should not compare FGM and MGM – and who believe that both have nothing in common:

Female genital mutilation (FGM) will only be stopped worldwide when male genital mutilation (MGM) has been stopped worldwide. In all countries where there is FGM, there is also MGM.

Human Rights and fundamental rights demand a fair approach: ALL CHILDREN deserve equal treatment. And it does not matter how the mutilation is done – the act of genital mutilation is reprehensible in and of itself. Even if it is justified with medical excuses and personal ideologies.

On May 7th, 2015, we celebrate the 3rd Worldwide Day of Genital Autonomy, in memory of the historical, ground-breaking Cologne judgment of 2012-05-07. – How long should children have to wait until adults finally grant them their rights, which they’ve been entitled to all along?

Ermittlungen gegen Ulf Dunkel eingestellt

Presseerklärung vom 25.10.2013

Die Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg hat die Ermittlungen gegen den niedersächsischen Grünen-Landtagskandidaten Ulf Dunkel aus Löningen wegen Beleidigung, Antisemitismus und Volksverhetzung eingestellt. Dunkel war als Landtagskandidat der Grünen Ende 2012 in die Kritik geraten und angezeigt worden, weil er im Zuge der Beschneidungsdebatte in sozialen Medien Beschneidungsbefürwortern Kaltherzigkeit und Traumatisierung von Kindern in Form eines Wutausbruchs und eines Gedichts vorgeworfen hatte. Für seine Äußerungen bat er um Entschuldigung und zog sich aus dem Landtagswahlkampf zurück. Ein Antrag des Grünen-Landesvorstands auf Parteiausschluss Dunkels ist indes noch nicht abgeschlossen. Sein Cloppenburger Kreisverband hat aus Protest über das Parteiausschlussverfahren seit Monaten seine politische Arbeit eingestellt. Dunkel reagierte erleichtert auf die Nachricht aus Oldenburg: „Meine Äußerungen waren rückblickend ein Fehler. Allerdings ist nun klar, dass ich weder fremdenfeindlich noch antisemitisch eingestellt bin, das wird hoffentlich auch das Landesschiedsgericht so beurteilen.“ Ein Verfahren gegen einen der Drohanrufer, der Dunkel und seine Familie bedroht hatte, wurde nun gegen eine Geldauflage eingestellt.

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Presseerklärung

Presseerklärung zur Beschneidungsdebatte

Mit dem Urteil des Landgericht Köln vom 7.5.2012 ist eine Entwicklung in der Rechtswissenschaft in der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, die meines Erachtens begrüßenswert ist. Die erste Reaktion der deutschen Bundesregierung, allen voran der Bundeskanzlerin, war, Deutschland aufgrund der Judikative zur „Komikernation“ zu erklären. Der Bundestag beschloss völlig übereilt: Wenn die Beschneidung rechtswidrig sei, dann müsse sie eben rechtmäßig gemacht werden. Das hat nicht nur mich sehr erschreckt.

Mir ging es in der nachfolgenden Debatte immer und einzig nur darum, die Schwächsten der Gesellschaft, namentlich die Kinder und somit auch die von der religiösen Praxis der Beschneidung betroffenen Kinder, vor einer unnötigen und irreversiblen Körperverletzung zu bewahren.

In der emotionalen Wucht der Diskussion ist es mir leider nicht immer gelungen, die richtigen, maßvollen Worte zu finden. Weil mich der Dokumentarfilm „It’s A Boy!“ eines jüdischen Filmemachers zur Beschneidung sehr stark bewegte, habe ich mich zu einem Wutausbruch  und zu einem, wie ich in der Nachschau eingestehen muss, der Sache nicht angemessenen Gedicht hinreißen lassen.

Wenn nun der von mir geschätzte Herr Graumann äußert, mein Machwerk strotze nur so von hasserfülltem Hochmut gegenüber Juden und Muslimen, dann erfüllt mich das mit Sorge. Ich bin weder Antisemit noch Antimuslim, noch bin ich hasserfüllt oder möchte gar hochmütig erscheinen.

Ich bedaure aufrichtig, wenn ich diesen Eindruck gemacht haben sollte oder meine Worte diesen hinterließen. Und ich bitte noch einmal jeden, allen voran und persönlich Herrn Graumann stellvertretend für die Menschen jüdischen Glaubens, aber selbstverständlich auch die Menschen muslimischen Glaubens, insoweit um Entschuldigung.

Ulf Dunkel
1.1.2013

Alternativer Gesetzesänderung-Entwurf § 1631 BGB

Die Beschneidungsdebatte ist seit dem Kölner Urteil vom Mai 2012 neu entbrannt, und das nicht nur in Deutschland. Obwohl die Bundesregierung längst hoffte, für Ruhe und „Rechtsfrieden“ zu sorgen, indem sie ein Sondergesetz entwirft, das die religiöse Beschneidung von Jungen straffrei stellt, erlischt das Feuer der Debatte nicht mehr.

Überall wird darüber diskutiert. Im Ausland warten viele Menschen auf eine klare Entscheidung für oder gegen das Recht auf Beschneidung von Minderjährigen. Allerdings werden, nachdem anfänglich nur die lauten und sehr markigen Stimmen der orthodoxen Religionssprecher zu hören waren, mittlerweile auch die Stimmen derjenigen deutlicher vernehmbar, die generell dagegen sind, es ihren Kindern auch aus einem religiösen „Zwang“ heraus nicht mehr antun wollen oder die als selbst Betroffene unter ihrer Beschneidung gelitten haben oder bis heute leiden.

Die Bundesregierung Deutschlands hatte das Bundesjustizministerium beauftragt, rasch zu überlegen, in welchem rechtlichen Kontext man einen Gesetzesentwurf verankern müsste und wie er aussehen könnte. Der Entwurf liegt seit ein paar Wochen vor und wurde – nochmals etwas schwammiger umformuliert – mittlerweile vom Regierungskabinett (Schwarz-Gelb) verabschiedet. Er soll jetzt seinen üblichen Weg durch die Instanzen gehen, bis ihn Bundestag und Bundesrat dann – möglichst schnell und ohne große Diskussionen oder gar Aufklärung in der Sache – durchgewunken haben. „Damit endlich wieder Rechtsfrieden herrscht.“

Die Vorgabe der Regierung ist klipp und klar: „Eine gesetzliche Regelung, die die Beschneidung auch aus religiösen Gründen ermöglichen soll, muss so konstruiert sein, dass dieses Ziel zweifelsfrei erreicht wird.“ So nachzulesen auch in einem Bundesratspapier, das den Gesetzesentwurf pe se kritisch sieht:

http://dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2012/0597-1-12.pdf

Es soll also ein Ergänzungsgesetz zum § 1631 BGB geben, der sich mit „Inhalt und Grenzen der Personensorge“ beschäftigt. § 1631 enthält momentan vier Abschnitte:

§ 1631 Inhalt und Grenzen der Personensorge

§ 1631 a) Ausbildung und Beruf

§ 1631 b) Mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung

§ 1631 c) Verbot der Sterilisation

Hierzu soll es einen ergänzenden Abschnitt § 1631 d geben, mit dem Titel „Beschneidung des männlichen Kindes„.

Das „Beschneidungsgesetz“, wie es mittlerweile allerorten genannt wird, ist faktisch ein „Sondergesetz für Juden“, da es in seinem zweiten Absatz klar auf die Beschneidung von Säuglingen abzielt. Muslimische Religionsvertreter haben sich schon beschwert über diesen Absatz, weil er sie nicht gleichbehandeln würde.

Ich behaupte, dass diese Gesetzesänderung ein Rollback in der Geschichte der Menschenrechte wäre und dem Kindeswohl absolut schadet. Dazu ist es wichtig, sich die Entwicklung des § 1631 in seiner Geschichte genauer anzusehen. Seine älteste Fassung stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts.

Damals sah er so aus:

01.01.1900:

§ 1631

(1) Die Sorge für die Person des Kindes umfaßt das Recht und die Pflicht, das Kind zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

(2) [1] Der Vater kann kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden. [2] Auf seinen Antrag hat das Vormundschaftsgericht ihn durch Anwendung geeigneter Zuchtmittel zu unterstützen.

Ich habe Absatz 2 Satz 1 hervorgehoben, weil er den Zeitgeist der Kaiserzeit widerspiegelte. Kinder waren Rechtsobjekte und Eigentum des Vaters (über die Rechte von Müttern und Frauen zu der Zeit sind anderswo Worte zu verlieren!). Selbst das Vormundschaftsgericht konnte züchtigen.

Erst achtundfünfzig Jahre später (!) ist der Zuchtmittel-Passus ersatzlos gestrichen worden:

01.07.1958:

§ 1631

(1) Die Sorge für die Person des Kindes umfaßt das Recht und die Pflicht, das Kind zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

(2) Das Vormundschaftsgericht hat die Eltern auf Antrag bei der Erziehung des Kindes durch geeignete Maßregeln zu unterstützen.

Das war damals ultramodern, zu einer Zeit, als Frauen zwar immerhin schon wählen, aber noch kein eigenes Konto haben und ihren Beruf nicht selbständig wählen durften, als Vergewaltigung in der Ehe noch lange nicht strafbar war usw.

1980 wurde der Erfolg von 1958, den Zuchtmittel-Passus gestrichen zu haben, nochmals verstärkt:

01.01.1980:

§ 1631

(1) Die Personensorge umfaßt insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

(2) Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.

(3) Das Vormundschaftsgericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.

Das Kind bekam in Deutschland erst 1980 eine eigene Würde, wow!

Achtzehn Jahre später (allerdings noch unter Schwarz-Gelb) wurde der 2. Abschnitt nochmals genauer spezifiziert, um Auswüchsen vorzubeugen:

01.07.1998:

§ 1631

(1) Die Personensorge umfaßt insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

(2) Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Mißhandlungen, sind unzulässig.

(3) Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.

Das Kind hat jetzt schon einen vom Gesetz wahrgenommenen Körper und eine Seele. Respekt, es geht voran!

Nachdem Rot-Grün 2000 das Recht der Kinder auf insgesamt gewaltfreie Erziehung eingeführt hat, sah er so aus:

08.11.2000, 01.01.2002:

§ 1631

(1) Die Personensorge umfaßt insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

(2) [1] Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. [2] Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

(3) Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.

Das ist Stand der Dinge: Kinder sind endlich Rechtssubjekte, haben endlich eigene Rechte. Auch die Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention ein paar Jahre vorher (1990, 1992) spiegelt sich in dieser Änderung von 2000 wider.

 

 

Momentan allerdings ist in der Debatte vorgesehen, einen Rollback in alte Zeiten vorzunehmen, eigentlich bis in das Jahr 1900 zurück, weil dem Erziehungsrecht wieder Macht über den Körper des Kindes gegeben werden soll.

Diesen Rollback gilt es mit allen Mitteln zu verhindern, wenn wir nicht unsere Entwicklung als säkulare, aufgeklärte, an den Menschenrechten orientierte demokratische Gesellschaft aufs Spiel setzen wollen. („Wehret den Anfängen!“)

Der BGB-Paragraph 1631 „Inhalt und Grenzen der Personensorge“ soll nach dem Willen des von lautstarken Argumenten orthodoxer Religionssprecher eingeschüchterten Parlaments zwar so bleiben wie er ist, allerdings eine brisante Ergänzung § 1631 d erhalten, die wie folgt lauten soll:

Kabinettsbeschluss Entwurf:

§ 1631d Beschneidung des männlichen Kindes

(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.

(2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.

Man sieht schon formal, dass dieser Kabinettsbeschluss sich als Flickwerk überhaupt nicht in die Entwicklung des Paragraphen einfügt und ihn komplett aushebelt und damit lächerlich macht. Zudem ist Absatz 2 eben genau das „Sondergesetz für Juden“, das wohl niemand gutheißen kann.

(Interessanter Nebenaspekt des Kabinettsbeschlusses: Im BMJ-Entwurf stand noch „… wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird.“ – Die Änderung macht selbst die Anforderung „lege artis“ zu einem Gummiparagraphen!)

Nimmt man hinzu, dass schon oftmals in der Geschichte bis heute durch stümperhafte Beschneidungen die Jungen später als Erwachsene nicht mehr zeugungsfähig waren, kommt das Beschneidungsgesetz fast schon direkt in Konflikt mit § 1631 c) „Verbot der Sterilisation“. Der ganze bisher gültige § 1631 atmet den Geist des verantwortungsvollen Umgangs mit dem Kind zu seinem körperlichen, geistigen und seelischen Wohl, wird aber durch den aktuellen Ergänzungsentwurf § 1631 d mit Füßen getreten.

Mein Gegenvorschlag wäre, § 1631 Absatz (2) wie immer schon in seiner Entwicklung nochmals klarer zu formulieren, um eben abermals Auswüchse einzudämmen:

2012 Gegenentwurf zum Kabinettsbeschluss: § 1631

(1) Die Personensorge umfaßt insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

(2) [1] Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. [2] Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. [3] Körperliche Eingriffe ohne medizinische Indikation sind unzulässig.

(3) Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.

Das wär’s.

Damit wären Beschneidungen Minderjähriger ohne medizinische Indikation, aber auch Ohrlochstechen, Piercings usw. nicht mehr erlaubt. Die „Ahndung“ müsste sich gegen die „Auftraggeber“, also in der Regel die Eltern, sowie gegen die „Täter“, also Beschneider, Piercing-Studios, Schmuckläden, usw., richten. Es wären keine besonderen Strafregeln neu zu erfinden, weil das alles im StGB schon vorhanden ist.

Diese Erweiterung des § 1631 (2) wäre ein weiterer Schritt zu mehr Kinderrechten in deutschen Gesetzen, während der Kabinettsbeschluss Kinder wieder zu Rechtsobjekten machen will, auf dem Stand des vorletzten Jahrhunderts.